heute morgen gestern
Jahresgaben Verein Stadt-Galerie

Sie sind hier: » kunstvereinahlen.de » gestern » Realisierte... » o.T. - Melita Dahl,... » Stadtidentität über... 

Verzauberung durch Irritation

Stadtidentität über ästhetische Erfahrung

Tazro Niscino
Melita Dahl
Dirk Vollenbroich
Christian Gieraths
Ira Marom
Jürgen Witte
André Philip Lemke

Sich innerhalb eines Stadtmarketing-Konzeptes, wie es der Landeswettbewerb "Ab in die Mitte" vorsieht, für ein rein künstlerisches Konzept zu entscheiden, mag im ersten Moment überraschen. Der Grad der Eventisierung im Marketing-Kontext zur Stadterfahrung scheint zunächst sehr niedrig und damit wenig vielversprechend, was Verkaufszahlen und infra-strukturelle Konjunktur angeht. Und doch hat sich die westfälische Stadt Ahlen mit einem Ausstellungskonzept bei den Juroren der Cityinitiative "Ab in die Mitte" beworben.

Stadtidentität über ästhetische Erfahrung herzuleiten, über Kunstobjekte eine Stadt für ihre Bürger wie für die Besucher attraktiver zu machen, behält wahrscheinlich zunächst einen bildungsbürgerlichen und elevierten Beigeschmack. Allerdings nur so lange man nicht darüber kommuniziert. Ahlen führt neben einer Ausstellung von sieben Künstlern im öffentlichen Raum des historischen Stadtkerns ein detailliertes und intensives Kommunikationsmodell durch. Kunst zu betrachten und für sich selbst zu interpretieren, bleibt subjektive Erfahrung - das Gespräch darüber aber kann ein kollektives Erlebnis sein.

Unter dem Titel "Verzauberung durch Irritation" veranstaltet Ahlen im August 2002 eine zweiwöchige Ausstellung mit sieben Künstlern, denen diese Kleinstadt bis zum Datum ihrer Einladung noch vollkommen unbekannt war. Das war der Ansatz, den die künstlerische Leitung gewählt hatte. Stadterfahrung und Stadtidentität kann neu initiiert werden, wenn das Alltägliche gebrochen, irritiert wird.

Das, was wir jeden Tag sehen, geriert zum Beliebigen. In der Bewältigung unseres Alltags in einer Stadt nehmen wirWege und Ziele nur noch nach funktionalen Aspekten wahr. In der allgemeinen Hektik gehen Details und Facetten verloren.

Um Alltag gründlich einer Störung zu unterwerfen, benötigt man die Distanz des Störenden, der in der Lage ist, sich von alltäglichen Kontexten zu lösen und eine Situation nachhaltig zu verändern. Wer könnte das besser als der Fremde, der Gast einer Stadt. Mit sieben nationalen und internationalen Künstlern wurde eine Gruppe von Menschen gefunden, die sich in zweierlei Hinsicht in der Distanz zu Ahlen verhalten sollte: einmal als Fremde, die Ahlen als unbekannte Struktur mit Geschichte wahrnehmen, als eine kleine Stadt in Westfalen mit ihren Schönheiten sowie mit ihrer Häßlichkeit, und zum anderen als Kreative in der künstlerischen Auseinandersetzung.

Kunst bedeutet immer Perspektivenwechsel: der Zugang zu einer anderen Ebene von Ausdruck und Kommunikation. Die Produktion von Zeichen und Formen, wie wir sie innerhalb unserer standardisierten Lebenswelt selten finden und schon gar nicht als Konzept. Kunst spricht davon, die Welt, jetzt Ahlen anders zu betrachten. Deswegen hatte man eingeladen und das Konzept ging auf:

Tazro Niscino
Tazro Niscino

Auslöser der selbstbewußten Wahl für eine Ausstellung waren die Arbeiten des japanischen Konzept-Künstlers Tazro Niscinos. Niscino arbeitet seit einigen Jahren in Deutschland – wie international – mit künstlerischen Eingriffen und Irritationen im öffentlichen Raum.

Er bricht Alltagserfahrung und Routine durch die einschneidende Veränderung von Lebenswelt. Als er 2001 in Münster die 2 Meter große Uhr vom Dach der juristischen Fakultät der Universitätsstadt holte und sie mit der Wanduhr der Kantine vertauschte, waren Passanten und Studenten gleichermaßen irritiert. Orientierung war unterbrochen, Räume waren verändert und ein Bewusstwerdungsprozess kam in Gang. Mit aller Selbstverständlichkeit hatte man diese beiden Uhren nur als Informationsträger von Zeit wahrgenommen, niemals ihren eigenen ästhetischen Wert. Bis dato war die Betrachtung der Uhren Routine, der Blick ein Automatismus, nun gestört, bezeichnet, bewusst gemacht. Über diesen Ansatz lässt sich Stadterfahrung und Identitätsbildung hervorragend thematisieren. Niscinos Irritation und der damit einhergehende Perspektivenwechsel sollten programmatisch für die Ausstellung in Ahlen sein.

Niscino reagierte bereits beim ersten Besuch der Stadt Ahlen kreativ und entdeckte für sich die Alte Feuerwache, die, obwohl zentralgelegen, selten die Aufmerksamkeit der Passanten erfährt. Aus vollkommen anderen kulturellen wie auch ästhetischen Kontexten kommend begeisterte er sich stark für die Architektur dieses Gebäudes, weil es ihm fremd und schön vorkam, und lädt mit seinem Konzept "ohne Titel" die Ahlener wie ihre Gäste dazu ein, sich diesem Kleinod auf einer anderen Ebene zu nähern. Mit Hilfe eines Gerüstes wird der Turm der Feuerwache zum Museumsobjekt, eingefasst in einen künstlichen Raum. Der Betrachter begibt sich über eine Treppe auf die Ebene des Turmes und betrachtet ihn wie ein Kunstobjekt im Museum aus der Nähe.

Niscino nimmt die Feuerwache aus ihrer Profanie und entrückt sie in einen anderen musealen, das heißt elevierten Raum – in diesem Fall sogar wörtlich genommen auf einer Höhe von 10 Metern.

Melita Dahl
Melita Dahl

Melita Dahl, geboren im australischen Canberra, begegnete Ahlen nicht über die Strassen und Plätze, sondern sofort über die Menschen. Die Verwunderung, die Neugier auf die Menschen, die in Ahlen leben, ließ sie ein Videokonzept entwickeln, das auf intensive Interaktion mit den Bürgern der Stadt abzielt. Und hier beginnt das, was oben bereits mit Kommunikation angedeutet ist. Kunst entsteht nicht nur im Auge des Betrachters, es kann und sollte in diesem Fall auch ein Kommunikationsmodell sein. Vor der Kamera der Künstlerin sollte sich Jung und Alt darstellen. Eingeladen in die verschiedenen Haushalte der westfälischen Kleinstadt motivierte Dahl Familien und alleinstehende Senioren, Jugendliche und Honoratioren, sich zu inszenieren.

Ein Fächer von Gesichtern entstand, die Kunst kehrte ins Haus ein und die Ahlener selbst wurden ein Teil davon. Das Ergebnis wird während der zwei Ausstellungswochen in der zentralen St.Marien-Kirche projiziert, in der Apsis als Einladung zur Betrachtung der eigenen Darstellung. Die Menschen in Ahlen sind somit selbst zum Kunstwerk erkoren, in der Stille eines sakralen Raumes werden die Ahlener für die Ahlener zum Objekt der Konzentration und Auseinandersetzung. Stadtidentität entwickelt sich aus den Identitäten der Menschen selbst.

Melita Dahl nimmt zusätzlich in der künstlerischen, digitalen Bearbeitung des Bildmaterials ihre eigene Art der Irritation vor, mittels einer speziellen Morphtechnik setzt sie Sequenzen der Portraits zusammen, die bei konzentriertem Schauen eine Bewegung verdeutlichen und den Titel "Snapshot Ahlen Westfalen" auf eine filmische Ebene transferieren.

Dirk Vollenbroich
Dirk Vollenbroich

In der Beschäftigung mit der Geschichte der Stadt entschied sich Dirk Vollenbroich für eine Installation auf dem Marktplatz. Seine Wahrnehmung dieses zentralen Ortes, der Marktbeschicker und Einkäufer anzieht, öffnete im wahrsten Sinne des Wortes neue Räume. Der historische Brunnen, der mit einer Stahlplatte dem Erdboden gleich gemacht, ist der Platz für eine Helix in Form einer Wendeltreppe. Vollenbroich nahm, ohne es zu wissen, mit dieserWahl eine lang gehegte Auseinandersetzung zwischen Denkmalschützern und Bürgern auf. Sollte dieser Brunnen wieder in das Bewusstsein der Bürger gebracht werden, sollte er wirklich wieder ein sichtbarer Teil des Stadtbildes werden?

Der Künstler entwickelte mit "freestyle" darüber hinaus eine Form, die geradezu symbolhaft die Geschichte der Stadt widerspiegelt. Erst 2001 schloß Ahlen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor und Lebensunterhaltsgaranten: die Zeche. Eine gesellschaftlich hoch problematische Entscheidung, wie man sich vorstellen kann. Die materielle Orientierung in die Tiefe wird von Vollenbroich im übertragenen Sinne aufgenommen als Selbsterkundung und mit der in die Höhe gehenden Rotation des Verlaufs gewendet. Ahlen orientiert sich nach oben, ins Heute, in die Zukunft.

Neben dem höchst ästhetischen wie atmosphärischen Aspekt für den gesamten Platz geriert diese Installation zum neuen Wappen der Stadt, zum künstlerischen Zeichen für eine optimistische Entwicklung und damit zum symbolträchtigsten Ausdruck der gesamten Cityinitiative.

Christian Gieraths
Christian Gieraths

Den Titel der Ausstellung "Verzauberung durch Irritation" erhielt das Konzept durch das Werk des noch jungen Christian Gieraths, der einen zwar zentralen, aber problematischen Ort gewählt hat. Eine künstliche Anlage mit Namen Mariengarten in der Stadtmitte bietet sich, da vandalisiert und oft Anstoß bürgerlichen Ärgernisses zunächst wenig an für eine künstlerische Installation.

Aber gerade die Hervorhebung auch solch problematischer Räume gehört in dieses Konzept. 

Gieraths hat die eigentliche Absicht, hier einen Ort der Ruhe und Erholung einzurichten, sehr ernst wieder aufgenommen und installiert einen großen Glaskubus in der Mitte der im Rechteck angebrachten Bänke und Hecken, der von innen beleuchtet Waldbilder zeigt. Mit diesem "Zauberwald" verweist er auf eine eher meditative, besinnliche Atmosphäre inmitten des Einkaufstreibens und insbesondere an der Stelle, wo sich wöchentlich viele Jugendliche treffen. An solchen Orten mit Glas und meditativen Bildern zu arbeiten, kann sich als Provokation darstellen. Mit Hilfe der Presse und im persönlichen Gespräch aber wurde schon während der Aufbauzeit und in den zwei Wochen danach eine Umkehrung, nämlich die positive Besetzung dieses Mariengartens vollzogen.

Gieraths interpretiert damit deutlich die Existenz des städtischen Raumes über seine Funktion hinaus als Ort der Einladung zu neuen Bedeutungsnetzen, zu Gestaltung und Aufwertung.

Ira Marom
Ira Marom

Ein in jeder Hinsicht auf Interaktion angewiesenes Werk ist das Projekt des aus Israel stammenden Künstlers Ira Marom. Im Ahlener Heimatmuseum, einem restaurierten Fachwerkhaus gestaltet er mit seiner Sand-Media- Installation einen Wüstengarten. Zwischen historischem Gebälk und hinter dem Scheunentor eröffnet sich dem Besucher eine Landschaft, die Virtualität und Materie, in diesem Fall Sand und Kakteen, zusammenschmelzen lässt. In einem von ihm entdeckten Verfahren ist es Marom möglich, aus dem Internet gezogene Dokumente über ein spezielles Druckverfahren "in den Sand zu setzen".

Ausgehend von der taktilen Erfahrung mit dem Stoff Sand geht der Künstler von einer material-orientierten Basis aus über die Virtualität des Internet als Zeichen für unsere immaterielle Informationsgesellschaft wieder zurück in die Bodenständigkeit. Spuren hinterlassen, das ist sein Ziel. Und damit sind alle Ahlener wie auch ihre Gäste eingeladen, sich selbst über dieses Projekt zu artikulieren. In der intensiven Begleitung durch den Künstler und einer Kunstpädagogin erhält die Stadt Ahlen hier eine außergewöhnliche Plattform, sich mit den aktuellen Themen wie Virtualität und Realität, Vergänglichkeit und Kunst auseinander zu setzen.

Jürgen Witte
Jürgen Witte

Mit dem Titel "body farm" leitet Jürgen Witte mit seiner Installation eine zunächst provokative Ebene ein.

Dieser Begriff leitet sich zum einen aus der wellness- Bewegung her zum anderen aber gilt er als Bezeichnung jenes amerikanischen Versuchsterrains, das aus wissenschaftlichem, insbesondere kriminologischem Interesse den Verwesungsprozess von Leichen dokumentiert. Wittes Installation auf einer wild wachsenden Wiese in Ahlen begegnet dem Besucher zunächst als Form der Malerei.

In 14 "in Reih´ und Glied´" aufgestellten Bundeswehretagenbetten pflanzte er monochrome Farbflächen aus verschiedenen Sommerblumen. Das was aus der Ferne fast wie ein Farbmuster erscheint, verwandelt das Terrain zum einen ästhetisch, zum anderen allerdings auch atmosphärisch, wenn man durch die Bettreihen spaziert. Eine Notbeleuchtung im Bettengang verschafft den Blumen eine unheimliche Ruhe in den Abendstunden. Die Ironie von Blumen belegten Betten erschließt ein Feldlager besonderer Natur. Das Spiel zwischen Natur und Kunst , zwischen Authentizität und Inszenierung umschließt den Betrachter.

André Philip Lemke
André Philip Lemke

Die Geste des Schenkens ist der Kernpunkt des zweiteiligen Kunstwerks von André Philip Lemke. Lemke installiert an der grauen Hauswand am Rande eines grauen Parkplatzes im Innenstadtbereich einen auf seine Symbole reduzierten Blumenladen. Ein Neon-Piktogramm, in verschiedenen Farben leuchtend, weist schon von weitem auf ein Kleinod inmitten von Beton, Autometall und Straßenteer hin. Der Besucher entdeckt bald einen Eimer, der mit Blumen gefüllt ist. "´ne blume für sie" beschreibt einen Kommunikationspunkt, einen Ort des Warenaustausches ohne Geld.

Lemke ruft die Ahlener Bürger auf, selbst diesen Laden mit Blumen zu versorgen, Gartenblumen oder gekaufte dort hinein zugeben oder sich mit der Intention des Verschenkens selbst zu bedienen.

Der andere Teil seines Projektes beinhaltet seine Performance. Der Künstler wird zum Blumenhändler. Er verweilt einige Tage am Ort der Installation, um Blumen zu verschenken, um zu reden und zu erfahren. An ihm wird deultich, wie sehr Kunst im öffentlichen Raum auf eine Kommunikation zwischen Künstler und Bürgern angewiesen ist. Lemke realisiert diese Bedingung konkret durch seine Anwesenheit, durch seine Person in der Performance als Kommunizierender. Kunst als Geschenk.

So sehr wie dieses Stadtmarketing-Konzept ein künstlerisches ist, so intensiv muss es auch als kommunikatives Projekt stattfinden. Hier entsteht Kunst in der Provinz. Urbane Kontexte und Kommentare stehen in Ahlen nur selten zur Verfügung. Moderne Kunst braucht in ihrer Kühnheit hier und gerade mit dem Ziel identitätsstiftend zu sein, eine Einladung zum Gespräch. Sie braucht Einleitungen und Erklärungen. Kunst im öffentlichen Raum benötigt die Menschen, die über sie reden. Der persönliche Kontakt der Bürger zu den Kunstwerken und den Künstlern muss einen inszenierten Rahmen, ein Interesse erfahren, so dass es möglich wird, dass nicht nur der aus der Ferne eingeladene Künstler in Ahlen kreativ ist, sondern auch der Bürger in Eigenverantwortung und neu gewonnener Identität seine Stadt selbst gestaltet und attraktiv macht.

Jede Auseinandersetzung mit Kunst sollte - gerade auch im Kontext eines solchen Wettbewerbs, wie sich diese Cityinitiative darstellt - zu eigenen Taten führen: Kunst als Katalysator.

Petra Lindner
Künstlerische Leitung